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10. Todestag



Meilensteine

 

Sergiu Celibidache (1912-1996), zum 10. Todestag am 14. August 2006
von Mark Mast

 

Am 14. August vor 10 Jahren verstarb Sergiu Celibidache auf seiner Mühle südlich von Paris.


Vor genau 20 Jahren, im Frühjahr 1986, erlebte ich als junger Heidelberger Student den mir damals ebenso unbekannten wie unaussprechlichen Sergiu Celibidache mit seinem Orchester, den Münchner Philharmonikern, im Mannheimer Rosengarten zum ersten mal. Dieses Konzert erlebte ich wie ein Naturereignis – ebenso unvermittelt wie unfassbar zog mich die musikalische Energie, die von diesem Dirigenten und seinem Orchester ausging, in den Bann. Zu Beginn gleich die Klangmagie bei Debussys L’aprés-midi d’un faune, dann (kam vielleicht Weber-Ouvertüre zuerst?) und im zweiten Teil dann die 1. Symphonie von Brahms, die schon mit den ersten Paukenschlägen der Einleitung und den gleichzeitig ebenso auf- wie absteigenden chromatischen Linien der Außenstimmen des c-Moll-Satzes erahnen ließ, welch Urgewalt und gleichermaßen gesetzmäßig strukturierte Entwicklung sich soeben Bahn brach. Ich war wie erschlagen – ein Erlebnis, was zunächst allerdings keine Fortfindung finden sollte.

Im Sommer 1987 dann die zweite und zugleich folgenreiche Begegnung bei der Orchesterakademie des Schleswig-Holstein Musikfestivals. Nie vergessen werde ich die erste 3-stündige Probe, bei der Celibidache nichts weiter als die ersten beiden Takte der 2. Symphonie von Brahms probierte. In der anschließenden Mittagspause lag eine Spannung über dem Orchester, die dann erst bei den abschließenden Konzerten 4 Wochen später ihre Erfüllung finden sollte. Ich hatte geplant, 3 oder 4 Tage übers Wochenende in Salzau zu verbringen – 5 Wochen später sollte ich zurückkehren. Und ward nicht mehr der Gleiche. Was war geschehen? Endlich hatte ich jemand gefunden, der meine Fragen verstand. Und dessen Musizieren in der Lage war mir alle Antworten zu geben, auch auf Fragen, die ich noch gar nicht in der Lage war zu stellen.

So kam ich 1987 zu Celibidache nach München. Und studierte Musikalische Phänomenologie und Dirigieren bei ihm bis 1992 – in München, Mainz und Paris, und überall wo er sich aufhielt. In dieser Zeit besuchte ich mit wenigen Ausnahmen alle Proben und Konzerte von Sergiu Celibidache mit den Münchner Philharmonikern in München und auf Reisen. Eine besondere Erfahrung war in diesen Jahren auch meine Mitgliedschaft im Philharmonischen Chor München, die mir ermöglichte, die 9. Beethoven und die f-moll-Messe von Anton Bruckner mitzumusizieren.

1992 dann löste ich mich aus dem Meister-Schüler-Verhältnis und konzentrierte mich fortan auf meinen eigenen dirigentischen Weg, zunächst mit der Musikalischen Leitung des Münchner Jugendorchesters ab 1993 betraut, dann als Gründer und Chefdirigent der Jungen Münchner Philharmonie seit 1996. In diesen Jahren begannen auch meine zahlreichen Gastdirigate bei vielen internationalen Symphonieorchestern, Kammerorchesternn und an Opernhäusern. Mit den Jahren bildete sich dabei auch ein Schwerpunkt in der Zusammenarbeit mit deutschen Klangkörpern heraus.

Im Jahr 2000 kam dann die Familie Celibidache auf mich zu mit der Bitte, die Sergiu Celibidache Stiftung zu leiten. Mit großer Leidenschaft nahm ich mich dieser ehrenvollen Aufgabe an und konnte mit dem 1. Sergiu Celibidache Festival 2002 und dem 2. Sergiu Celibidache Festival 2004 in München zur »Grundsteinlegung« der Stiftung beitragen.

Im November 2005 dirigierte ich erstmals die Moldawische Staatsphilharmonie Iasi in Rumänien, das 1942 gegründete symphonische Orchester in der Vaterstadt Celibidaches. Ich erlebte eine musikalisch und menschlich inspirierte und beglückende Zusammenarbeit, die dazu führte, dass das Orchester mich im Frühjahr 2006 zum Principal Guest Conductor ernannte. So sind für die nächste Zukunft 6 Wochen gemeinsamen symphonischen Musizierens jährlich geplant.

Inzwischen finden im Auftrag des rumänischen Premierministers Taricanu und des Kultusministers Iorgulescu Gespräche über die Durchführung des 3. Sergiu Celibidache Festivals in Iasi statt.

Am 14. August 2006, dem 10. Todestag von Sergiu Celibidache, dirigierte ich die Konzerterstaufführung seiner Komposition »Der Taschengarten«. Dies war zugleich das erste mal, dass eine Komposition von Sergiu Celibidache vor Publikum erklang. Und damit schließt sich der Kreis zu dem jungen Celibidache, der vor über 70 Jahren Iasi verlassen hatte und nach Deutschland gekommen war, um Komponist zu werden.

Er hatte sein Leben dem Lehren und Dirigieren gewidmet getreu dem selbstgenannten Motto »Lehren ist das höchste menschliche Tun«. Der Nachwelt bleibt es vorbehalten, den Komponisten Sergiu Celibidache zu entdecken. Ich bin glücklich und dankbar, dies miterleben zu dürfen.

Fragen

Geboren 1912 in Roman / Rumänien, wuchs Sergiu Celibidache im unweit gelegenen Iasi auf, an dessen Universität er auch seine ersten Studien in Mathematik und Philosophie absolvierte und abschloß. Er verließ – gerade Anfang 20 – seine Vaterstadt mit dem Wunsch, Komponist zu werden. Nach kurzer Orientierung in Bukarest kam er 1934 (?) nach Berlin, um bei dem deutschen Komponisten Heinz Tiessen Komposition zu studieren.

Wenige Monate nach Kriegsende begann dann ebenso unvermittelt wie fulminant seine ungeplante Weltkarriere als Dirigent. Als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker leitete Sergiu Celibidache das Orchester des von ihm zeitlebens verehrten Wilhelm Furtwängler zwischen 1945 und 1954 bei 414 Konzerten, sicherte somit die künstlerische Qualität dieses Weltklasseklangkörpers und begründete dessen Nachkriegsgeschichte wesentlich mit.

In den folgenden 25 Jahren sollte Celibidache zwischen 1954 und 1979 ausschließlich  als Gast und zuweilen Principal Guest Conductor bei ungezählten Orchestern weltweit gastieren. Insbesonders sind dabei zu nennen: das Rundfunkorchester Stockholm, die Königliche Kapelle Kopenhagen, das London Symphony Orchestra, das Orchestre National de Paris, alle RAI-Orchester Italiens und das SDR-Orchester Stuttgart.

Ab 1979 leitete Sergiu Celibidache dann in den letzten 17 Jahre seines Lebens als Generalmusikdirektor der Stadt München die Münchner Philharmoniker und führte in dieser Zeit »sein Orchester« in die internationale Weltspitze. In dieser Zeit konzentrierte sich Celibidache ausschließlich auf das Musizieren mit seinen Münchnern, von 3 Ausnahmen abgesehen: die pädagogischen Orchesterakademien am Curtis Institute in Boston 1985, dann beim Schleswig-Holstein Musikfestival 1987 und 1988 und schließlich seine 1-wöchige einmalige Rückkehr ans Pult der Berliner Philharmoniker 1992.

10 Jahre nach seinem Tod nun stellen sich mir viele Fragen: Was ist geblieben von Sergiu Celibidache, dem respektierten Orchestererzieher, allseits anerkannten Klangmagier, scheinbaren Pulttyrannen? Wer sind die Erben Celibidaches? Worin besteht sein geistig-musikalisches Vermächtnis als Dirigent, Musiker, Phänomenologe? Wo und wie findet seine Nachfolge statt? Was hat Celibidache ausgezeichnet? Gibt es Werte seines Schaffens, die die Zeit überdauern werden? Fragen über Fragen.

Viele von uns gehören zu den Glücklichen, die Celi mit seinem Orchester bei Sternstunden hören und erleben durften. Wie plausibel war alles. Und immer wieder neu. Selbst die zwanzigste 4. Bruckner erklang im Konzert so, als würde das Werk soeben entstehen. Wie war das möglich?

Das Musizieren von Sergiu Celibidache war nie Selbstzweck. Sein Musizieren kannte immer das DU – den Komponisten und sein in die Partitur stenographiertes Erlebtes, den Musiker als mitgestaltenden Partner und Kollegen, das Publikum als Begleiter zu den tiefsten Geheimnissen symphonischen Musizierens. Sein ganzes Wirken und Leben war bezogen auf den Anderen, das Gegenüber, das DU.

Dabei war das Musizieren von Celibidache immer durchdrungen von größter Spontaneität, immer bereit und in der Lage darauf zu reagieren, »wie es klingt« – an diesem Tag, in dieser Verfassung, in diesem Saal. Und natürlich getragen von diesem unglaublichen Wissen um und über die Gesetzmäßigkeiten des Klangs und des menschlichen Bewusstseins. Keiner konnte ihm da das Wasser reichen – und wer kann es heute?

Dabei bin ich überzeugt davon, dass alles was einer von uns in seinen Konzerten erlebt hat, bleibt. Nichts geht verloren im Kosmos, alles hat Folgen. Und in diesem Sinne ist das Vermächtnis von Sergiu Celibidache enorm. Und eines wird mir immer klarer: in seinem Kern war Celis Musizieren reine Liebe.

Und damit zeigt sich nach meinem Verständnis eines der größten Missverständnisse seines Lebens – Sergiu Celibidache als Egomanen oder Diktator zu bezeichnen. Ich kenne keinen, der sein Gegenüber, das DU so sehr in den Mittelpunkt seines Lebens und Wirkens gestellt hat. Der mit der wahrhaften Begegnung mit dem anderen so ernst gemacht hat. Als Dirigent, als Phänomenologe, als Meister. Natürlich war das nicht immer angenehm oder gar bequem. Aber es war wahrhaftig.

In diesem Sinne will die Sergiu Celibidache Stiftung als internationales Netzwerk dem Vermächtnis von Sergiu Celibidache dienen. Offen und bereit für alle Fragen und Impulse, die das Musizieren und Lehren von Sergiu Celibidache gegeben und hinterlassen hat. Und sie hat es sich heute zur vornehmsten Aufgabe gemacht, nicht Konzert- oder Kursveranstalter zu sein. Sondern Dokumente in Wort, Bild und Ton zu sichern, zu archivieren und zugänglich zu machen für die Nachwelt, für all die, die eben Celi nicht mehr erleben können. Die aber eine Ahnung davon bekommen können dass es einmal einen gab, der ernst gemacht hat mit dem Credo: »Nur der Freie kann zur Musik kommen.«

Und es gibt noch einen Celibidache zu entdecken: den Komponisten Celibidache. An seinem 10. Todestag war es mir zusammen mit der Jungen Münchner Philharmonie vergönnt, erstmals eine Komposition von Sergiu Celibidache im Konzertsaal zur Aufführung zu bringen. So erklang im Herkulessaal der Residenz in München der »Taschengarten«, eine 13-sätzige symphonische Suite. In ihr offenbart sich Celibidache – wie könnte es anders sein – als Meister der Instrumentation, Beherrscher des symphonischen Apparats und als ebenso humorvoller wie hintergründiger Geschichtenerzähler. Er eröffnet uns mit dieser Partitur eine neue Chance, sein Wesen zu spüren und ihm im Heute nahe zu sein. Und es gibt noch weitere Partituren von Celibidache zu entdecken – der Schatz, den er exklusiv der Nachwelt hinterließ, kann noch entdeckt werden. Oder, wie Celi selbst im Interview sagte: »Der musikalische Garten Gottes wird immer fruchtbar sein.«