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Es wurde endlich wahr!



Eröffnung der Münchner Philharmonie

 

Auszug aus einem Artikel zum Eröffnungskonzert der Münchner Philharmonie von Jürgen Hiller in der Pforzheimer Zeitung vom 11. 11. 1974.



Seit der Zerstörung der alten Münchner Tonhalle in den Bombennächten des Jahres 1944 waren die Münchner Philharmoniker ohne ein eigenes Haus. Nach über 40 Jahren konnten sie nun im neuen Münchner Kulturzentrum am Gasteig eine neue Wirkungsstätte beziehen. Damit hat München neben der Berliner Philharmonie und dem Leipziger Gewandhaus den dritten und auch größten deutschen Konzertsaal-Neubau der Nachkriegsgeschichte erhalten.

Hinter dem Münchner Gasteig-Kulturzentrum verbirgt sich ein wohl in der Welt einmaliges Konzept; das Nebeneinander von städtisch subventionierter und kommerzieller Kunst. Eine Betriebsgesellschaft sorgt für die optimale Nutzung der fünf Säle (bis 2400 Personen) und Vortragsräume, die in erster Linie von den städtischen Dauermietern, wie der Münchner Volkshochschule, der Stadtbibliothek, dem Richard-Strauss - Konservatorium (Münchner Musikhochschule) und den Münchner Philharmonikern genutzt werden.

Am vergangenen Sonntag konnte nun das "Jahrhundertwerk" mit einem Festakt seiner Bestimmung übergeben werden und mit den ersten üppigen Takten des Einzugsmarsches von Richard Strauss zeigten die Münchner Philharmoniker unter dem Generalmusikdirektor Sergiu Celibidache was an Akustik in der neuen Philharmonie steckt. Selbst Bundespräsident von Weizäcker, der an der Feierstunde teilnahm, war von ihr so angetan, daß er abschließend meinte: "Nutzen sie in gut, da ich selbst oft in der Nähe bin, werde ich mich gerne daran beteiligen".

Es kommt nicht von ungefähr, daß Sergiu Celibidache Bruckners fünfte Sinfonie für das Eröffnungskonzert wählte, denn sie schien lange als die am wenigsten innerlich geschlossene - vielleicht gerade wegen der kunstvollen formalen und thematischen Verklammerungen der vier Sätze. Sie wirkt auch weniger kunstvoll als künstlich, wenn es dem Dirigenten nicht gelingt, Sinneszusammenhänge so herzustellen, daß sie nahezu den Charakter des Spontanen annehmen. Wie viele Parallelen hier zur Realität zu finden sind.

Doch Sergiu Celibidache belehrte darüber mit seiner Interpretation mit seinen Philharmonikern darüber, daß nicht Pathos und Auskosten der Effekte zu solcher wie "aus einem Guß" wirkenden Spontaneität hinführen, sondern nur die peinliche Befolgung der Partitur. Jedes korrigieren der oft harten Anweisungen im Interesse vermeintlichen Schönklangs führt unweigerlich zurück zur Ideologie der Retuschen, die einst Schalk vertrat.

Celibidache hat uns die Fünfte wiederentdeckt! Dynamische Nuancen erreichten durch Werktreue höchste Wirkung; den Streichern forderte er jene Artikulation ab, die nur durch die exakte Befolgung einzelner Vorschriften erzielt werden kann; allmähliche Tempoänderungen wurden dem Duktus der Musik nicht aufgedrängt, sondern logisch entwickelt; er hielt grundsätzlich am Metrum fest, ohne daß dieses zu ungerechtfertigter Überdehnung der Generalpausen führte. Ein Gelingen einer solchen Wiedergabe war gewiß nur mit intensiver Arbeit und einem hochqualifizierten Orchester, wie die Münchner es zur Zeit sind, möglich, das sich quasi bis zur Aufopferung den Intensionen Celibidaches hingab. Ovationen für Bruckner dank Sergiu Celibidache und "seinen" Musikern.



Perfektionsdrang und Statik
Celibidache dirigiert in der Gasteig-Philharmonie
von Joachim Kaiser (Süddeutsche Zeitung München)

Aberglaube, sonst auch bei großen Künstlern grassierend, scheint Sergiu Celibidaches Schwäche wirklich nicht zu sein: Er begann das erste Festkonzert zur Eröffnung der Philharmonie im Gasteig Kulturzentrum mit einer 40 Minuten langen, kargen und im wesentlichen von Gesangssolisten des Tölzer Knabenchors bestrittenen Begräbnismusik. Heinrich Schütz hat seine „Musikalischen Exequien" bescheiden ein „Wercklein" genannt, „mit 6, 8 und mehr Stimmen zu gebrauchen": Ob der Komponist sich wohl hätte vorstellen können, dass diese schlichte, sehr protestantisch-spirituelle deutsche Begräbnis -Missa aus gerechnet zu einer Konzertsaaleröffnung, 400 Jahre nach Schützens Geburt, würde dargeboten werden?

Zugegeben, es kann nie schaden, sich daran zu erinnern, dass wir Menschen sterben müssen, dass unser Leben kurz ist. Die „Exequien" sind da noch strenger: „Ach wie elend ist unsere Zeit allhier auf dieser Erden", „des Bleibens ist eine kleine Zeit, voller Mühseligkeit". Der rigoristische Celibidache sah also zunächst einmal herb davon ab, dass die Eröffnung einer - was den Konzertsaal betrifft - doch schönen und großen, menschenverbindenden Philharmonie eigentlich ein Augenblick der Freude, der schwer errungenen Lebensbejahung sein könnte und dass sie für uns arme Erdenbürger viel bedeutet - die große symphonische Tradition abendländischer Musik. Ihr „Festlicher Ton". Ihre überprivate Wahrheitssuche. Ihre spirituelle Herrlichkeit.

Statt dessen zart-ausführliche - teils der frühen Doppelchörigkeit verpflichtet, teils rezitativisch streng worterläuternde - Todestöne. Johannes Fink hat die für einen kleinen kirchlichen Raum konzipierte Musik behutsam so vergrößert, dass sie die Gasteig-Philharmonie nicht gerade füllte, aber auch nicht allzu dünn blieb. Unerlaubterweise - denn Schütz war ein strenger Intellekt und seine Textanordnung entsprechend durchdacht - trug man das Ende „Herr, nun lassest du deinen Diener in Frieden fahren" als zweiten Teil und das Mittelstück als Schluss vor.

Einige zarte, von Celibidaches Langsamkeit gelegentlich überforderte, unsicher gemachte, wunderschöne Knabenstimmen, der Philharmonische Chor, das Basso continuo mit Orgelpositiv: So begann es - und die bereitwilligen 2400 Festgäste ließen sich aufs ebenso Ferne, Protestantische wie Bedeutende ein mit fast konvertitenhaftem, aufmerksamen Eifer.

Nun kommt Schütz bekanntlich von der venezianischen Doppelchor-Technik her. Konzertante Antithetik, madrigalische Ausdruckskraft und streng lutherische Textnähe durchdringen einander bei ihm.

Celibidache suchte nach der Einheit in einem schönen, herben Klang. Er „machte" nicht viel. Schmückte nicht aus, zauberte nicht. Gab seine Wahrheit. Manchmal freilich kann ein klarer Stil ein Nachteil sein - wenn nämlich der Redende verhältnismäßig wenig zu sagen hat. Wie gern hätte man sich in die spirituelle Noblesse des Heinrich Schütz verloren. Nur: bei Celibidache fand nicht hinreichend Konzertantes statt. Er führte allzu wenige verschiedene dynamische Zustände vor, gestattete kaum auch rhythmische Kontraste, machte aus der Musik ein strenges Exerzitium. Das war beeindruckend rigoros, aber längst nicht so beeindruckend als Kunstleistung. Immerhin musste man die Ausführenden schon dafür bewundern, daß die Nervosität nicht überhandnahm, nachdem bereits der erste Solo-Einsatz verfrüht kam, verlegen abbrach und wiederholt wurde - wozu des Maestros enorm langsames Zeitmaß durchaus die Möglichkeit ließ.

Ihr eigenes Gesetz schuf Celibidaches konsequente Strenge nicht: Dazu wirkte manches einfach zu unsicher, dazu steht ihm Schütz' Variabilität offenbar zu fern. So ist es ja keineswegs unschützisch, gewisse textnah auskomponierte Sequenzenen. ..auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ auch bewegt, gleichsam grenzenlos beseelt, zu deklamieren: Die Worte „das ewige Leben" wiederholen sich hier auf verschiedenen Stufen unendlich oft Celibidache blieb zurückhaltend. Umgekehrt wurde er positiv laut, wo er den Text zwar gelesen, aber vielleicht nicht ganz verstanden hat. Das „auch wenn dirs wohl gelinget" kam ziemlich triumphal, wie ein Erfolg in G-Dur. Nur war es ein Missverständnis. Denn der von Schütz komponierte Kontext relativiert ja gerade das irdische Gelingen. „Wir müssen alle sterben, allhier in diesem Jammertal ist Müh und Arbeit überall, auch wenn dirs wohl gelinget."

Solchen Einzelheiten standen gewiss auch schöne Momente gegenüber. Man begriff, wie gut die Akustik selbst dünne Töne trägt, wie erstaunlich nah der ferne Knaben-Einsatz scheint, wie wenig übrigens eine getrennte Aufstellung in dieser Philharmonie erbringt Anscheinend verschmelzen die Stimmen, auch wenn sie „venezianisch" auf zwei Seiten produziert werden, doch rasch, aber nicht mulmig. Immerhin: Wir begriffen, hier wollte ein alter Maestro nicht leichtfertig eine Saison eröffnen, sondern Ehrengäste von nah und fern daran erinnern, dass nicht Philharmonie und Kunst Ziel des Lebens sind, sondern der Tod.

Bruckners V. Symphonie, die nach der Pause von den Philharmonikern zelebriert wurde, dauerte über anderthalb Stunden. Reiner, klarer, durchsichtiger, zarter, aber auch statischer und langsamer, als Celibidache dieses Riesenwerk mit einem gefährlich stark besetzten Philharmoniker-Orchester vorführte, lässt sich eine Wiedergabe kaum vorstellen.

Dabei scheint manchmal eine bewunderungswürdige Perfektion, ein Absolutes an Orchesterkunst erreicht zu sein. Gewisse gemeinsame Ritardandi, gewisse vollkommen kontrollierte dynamische Schichtungen oder Veränderungen erklangen mit vollendeter Präzision. Die hemiolische Kontrastrhythmik (kürzer: 2 gegen 3 im sehr langsamen Tempo; später durch Sechzehntel-Sextolen ergänzt und überhaupt nicht verunklärt) hat man wohl noch nie genauer, selbstverständlicher gehört. Ruhig fließend gelangen die Übergänge.

Sehr langsame Zeitmaße sind kein Argument für oder gegen etwas. Es kommt darauf an, was sich im extremen Tempo abspielt oder nicht abspielt. Aber auch Reinheit und Orchesterkultur sind noch kein Argument, sondern selbstverständlich nur eine Voraussetzung, eine conditio sine qua non ....

Wir müssen also - denn über diese gegebenen Voraussetzungen dürften sich Celibidache-Verehrer und Celibidache-Skeptiker einig sein - hier nun ein Urteil wagen, was Celibidaches Künste erbrachten.

Für mich folgendes: Der Meister sucht stets nach einer ruhigen, unaufgesetzten, selbstverständlich aus der Partitur sich ergebenden Klanggestalt. Nach einer optimalen, vielstimmigen, klaren Schichtung. Und die Kunst seiner wohl trainierten Philharmoniker erlaubt ihm auch, dieses jeweilige Optimum anti-banaler Schwunglosigkeit zu finden. Klangschönheit als Klangwahrheit.

Man kann sich damit zufriedengeben und sagen, alle andern musizieren unreiner, temperamentgeiler, weniger kontrolliert: Er aber verkörpere und verteidige ein Extrem.

Man kann aber auch den Schluss begründen, dass diese ästhetisierende Haltung, die übrigens der feinen Akustik des neuen Saales recht entgegenkommt, Symphonien in Stellen und Zustände verwandelt. Bei Celibidache, weil er es auf Perfektion anlegt, fühlt man kaum je, in welcher Phase des symphonischen Prozesses man sich gerade befindet. Für ihn gibt es nur wenige, fast immer langsame - fast nie „donnernde", oder luxuriöse, oder archaisch wilde - Vollkommenheiten. Und die gleichen sich einander unvermeidlich, aber auch nicht gerade spannend! an. Er ist der Erfinder verklärter Langeweile aus Perfektionsdrang.

Doch nicht nur das bringt sein Singen und Sagen in die Nähe sektiererischer Sterilität. Noch schlimmer: die Glut mit der Bruckner eine archaische Wildheit in sich überwindet, die grandiose Heftigkeit der Erfindung: Alles das weicht einer altherrenhaften , wunderschönen, gnadenlos ausgespielten Edel-Resignation. Wie schneidend, wie versehrend könnte der Choral schon im ersten Satz klingen, und nicht erst am unvermeidlich unwiderstehlichen äußersten Ende des Finales, eo Bruckner die katholische Allmacht triumphieren lässt über wild wagnerianisches Rauschen, wo die Ecclesia triumphans Wallhall überwältigt.

Wie dem auch sei: Die Risse, die durch Bruckner gehen, die heroischen Wildheiten, mystischen Herrlichkeiten (das Adagio gelang vergleichsweise am besten), alles das ebnet Celibidaches Schönheitssinn langatmig und altmodisch ein. Kein Leben verbindet die Teile, sondern nur Kontrolle. Furtwängler, auf den er sich so gern beruft, war sein Antipode, Knappertsbusch, den er missachtet, war ein tragisch spontaner Meister, und Karajan schuf den schlank flimmernden Bruckner. Er aber besitzt nicht die innere Freiheit, Bruckner-Scherzo-Landschaften entstehen, den hymnischen Ton überwältigend strahlen, die Idee und nicht nur Orchester-Beherrschung, Gestalt werden zu lassen. So kam es, als alles vorbei war, zu bewunderndem Jubel, aber auch irritiertem Kopfschütteln.


Klangdom
Celibidaches Münchner Bruckner
Wolfgang Sandner (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Sinfonische Riesenschlangen: Das prominente Verdikt zum wichtigsten Teil von Anton Bruckners Schaffen prägt noch immer dessen Interpretation; viele Orchester spielen so, als ob ein Justizirrtum der Musikgeschichtsschreibung aufgeklärt werden müsse. Dabei wirken die meisten Wiedergaben wie Überkompensationen. Indem die Werke gestrafft werden, bestätigen sie zugleich das hämische Urteil. Unter den lebenden Dirigenten ist Sergiu Celibidache vermutlich der originellste und erfolgreichste Apologet des Linzer Komponisten. Mit seinen unendlich langsamen Tempi steigert er noch die Ausmaße Brucknerscher Sinfonik. Und liefert damit die Unschuldsbeweise im ästhetischen Indizienprozess gegen Bruckner: Wie kann etwas zu lang, zu riesenhaft oder monströs sein, wenn es sich noch steigern, verlängern, vergrößern lässt? Sinnvoll vergrößern lässt, muss man selbstverständlich ergänzen. Denn Celibidache dehnt beispielsweise mit seinen rigorosen Zäsuren, mit der Betonung offener Schlüsse und einer bis zum Stillstand retardierten Gestaltung das in anderen Interpretationen gut viertelstündige Adagio der Fünften Sinfonie von Bruckner um ganze fünf Minuten aus und legt damit wie in Bewegungsstudien laufender Bilder gleichzeitig die Struktur der Details und ihre Funktion im Zusammenhang des Satzes bloß. Celibidache erweist sich damit nicht lediglich als Dirigent. Er ist der Baumeister Brucknerscher Großkomplexe.

Fast ist man da geneigt, zu spekulieren. Wäre er - das heißt ein ähnlich genialer Konstrukteur - doch auch der Architekt des Münchner Gasteigs gewesen! Aus der Boa constrictor kommunalpolitischer Träume, die nicht nur Unsummen verschlungen hat, wäre dann vielleicht ein bis ins Detail ausgereifter städtebaulicher Organismus geworden. Der Spott, der in der siebenjährigen. Entstehungszeit - die lange Planungsphase nicht mitgerechnet - über den Betonklotz am rechten Isarufer und seine vielfältige Bestimmung ausgegossen wurde, kann aber das Kernstück des Komplexes, das jetzt mit einem Festakt in Anwesenheit Richard von Weizsäckers und einem Konzert der Münchner Philharmoniker er öffnet wurde, nicht treffen: der große Saal im Gasteig ist, das lässt sich jetzt schon sagen, ein Glücksfall unter den Konzerthallen in Deutschland, geradeso, als habe man ihn um die Kunstanschauung Celibidaches herumkonstruiert. In seiner Riesendimension bietet er Platz für die Großraumästhetik des Dirigenten. Und bei den akustischen Bedingungen, die sich nicht zuletzt aus der amphitheaterähnlichen Form ergeben, vermeint man sogar das Geräusch zu vernehmen, das entsteht, wenn der Stab des Dirigenten die Luft zerschneidet. Celibidaches Pianissimo - Kultur kann sich hören lassen.

Als wolle er die Tragfähigkeit eines reduzierten Klangs sogleich erproben, stellte Celibidache an den Anfang seines Konzerts die „Musikalischen Exequien" von Heinrich Schütz. Eine Begräbnismusik als Eröffnungsstück für ein neues Haus, Bibelworte in der lutherischen Übersetzung für die Philharmonie in Bayerns Hauptstadt — ein bemerkenswert irritierendes Moment im festlichen Rahmen, ein Hinweis auch auf den freien Geist, der da die Münchner Philharmoniker seit 1979 leitet und offenbar von keiner Macht der Welt und von keiner Konvention der musikalischen Kultur gebändigt werden kann, es aber mit seiner Eigenwilligkeit und seinem rigorosen Arbeitsethos ge schafft hat, dem Ensemble wieder eine angemessene Stellung im Konzert deut scher Kulturorchester zu erstreiten.

Celibidaches Interpretation der „Musikalischen Exequien", behutsam vom Cellisten der Philharmoniker Johannes Fink im Instrumentarium des Basso continuo um zwei Blockflöten, vier Barockposaunen und vier Gamben und im vokalen Teil um einen Knabenchor und einen gemischten Chor erweitert, wirkt wie die Kontemplation einer Kontemplation. Mit seinem ruhigen, gleichbleibenden Schlag und einer nur in der Schlußmotette „Herr, wenn ich nur dich habe" gesteigerten Dynamik nimmt Celibidache alle dramatischen Momente aus dem Werk. Nicht einmal die flüchtige Inszenierung einer venezianischen Mehrchörigkeit durch die Aufteilung des hervorragend disponierten Tölzer Knabenchors im Canticum Simionis kann hier, wie es Heinrich Schütz vorlebte, den Effekt des Werkes vermehren. Celibidaches „Musikalische Exequien" tragen in ihrer bohrenden Gleichförmigkeit und klanglichen Stille Litaneicharakter: es sind musikalische Askesen, als Einübungen in die Bruckner-Reflexion - von Celibidache-Format.

Ein Bruckner-Orchester waren die Münchner Philharmoniker schon zu Zeiten eines Siegmund von Hausegger, Celibidache knüpft an diese Tradition an, baut mit seinem Orchester Dome aus den Sinfonien des gottesfürchtigen Komponisten. Vielleicht kommt gerade die 5. Sinfonie Bruckners mit ihren drei Adagio-Teilen, der motivischen Verknüpfung aller Sätze, aber auch mit dem abgeschlossenen Allegro-Hauptthema, das offenbar nur in der Reihung Dynamik zeigt und sich nicht aus sich heraus zu entwickeln weiß, dem Gestaltungswillen Celibidaches, seiner bohrenden Intensität und seinem Strukturverständnis am nächsten. Celibidache lässt das kontrapunktische Meisterwerk gewissermaßen aus den tropfenden Pizzicati der Einleitungsbässe entstehen, macht die Einheit der Komposition durch das Herauspräparieren seiner Wiederholungsrituale bewusst. Eine imposante und imponierende Leistung.

Nach vierzig Jahren haben die Münchner Philharmoniker, deren Ton halle im Krieg zerstört wurde, also wie der ein eigenes Haus, das gleichzeitig auch dem Bayerischen Rundfunk-Orchester offensteht und die chronische Münchner Konzertsaal-Not beendet. Mit seinen 2400 Sitzplätzen, von denen man. überall gut sieht, wohl auch gut hört und nicht zuletzt bequem sitzt, ist es größer als die Philharmonischen Weinberge von Berlin und das neue Leipziger Gewandhaus, mit dem es in der Raumaufteilung im übrigen einige Ähnlichkeit aufweist. Die Größe und die hervorragende Akustik des Saales können gleichzeitig als Prüfstein für das Münchner Orchester gelten, ob es - wie immer wieder einmal erklärt wird - tatsächlich eine dritte philharmonische Kraft zwischen Preußen und Österreich darstellt. Dass im Eröffnungskonzert kleine Mängel im Ensemble zu hören waren - eine gewisse Stumpfheit in den hohen Streichern, unausgewogene Klangfarben bei den Holzbläsern -, besagt noch nicht viel. Vielleicht hat sich das Orchester selbst noch nie so gut gehört. Aber wenn die Schwächen bleiben, dann will das schon etwas heißen: dass München nicht Berlin ist. Und auch nicht Wien.