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Radio Sinfonie Orchester Stuttgart



Sergiu Celibidache über Musik und Musikleben heute


Ein Interview aus der Zeitschrift "Das Orchester" von Heinz Ludwig.

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Was wäre zu tun?

Leben ist keine Garantie für richtiges Leben. Mit den Klangempfindungen spielen ist keine Garantie für die Entstehung der Musik. Und doch muss man mit den Klangempfindungen umgehen, um auf das Erlebnis der Musik kommen zu können. Singen Sie falsch? Singen Sie wieder. Und in wie vielen Weisen kann Singen falsch sein! Wenn man so wenig von der Musik weiß wie der Geigenprinz Szeryng, hat es keinen Sinn, auf die natürliche Phrasierung der Kinder zu achten. Aber nicht alle Kinder, die schutzlosen die weniger begabten, würde ich lieber zu einem Western einladen, um wissentlich das Besuchen eines Boulez   Konzertes zu verhindern, denn ich fürchte, dass er nach wie vor wieder zu beweisen versuchen wird, dass er nicht so recht glaubt, dass der vierte Takt aus dem dritten entstehen soll. Das ist ein Scherz und höchst unrealistisch werden Sie sagen. Ist es realistischer zu sagen, dass ich die Absicht hege, unseren Kanzler Schmidt mit dem Projekt eines musikalischen Strafgesetzbuches zu stören? Ich weiß, warten Sie, dass die Idee nicht sehr praktisch wäre, denn die Welt steht schon lange nicht mehr, wie einst, unter dem musikalischen Einfluss Deutschlands. Als die Achse gebrochen wurde, haben die Japaner den längeren Teil erwischt. Was nun tun? Wir können auch von dieser sagenhaften Großzügigkeit der Amerikaner nicht er warten, dass sie uns das schicken, was sie selber nicht haben. Sie könnten Galamian, den heutigen Flesch des grünen Kontinents, der ebenso ein genialer Geigenpädagoge wie ein fundamentaler Ignorant aller musikalischen Probleme, wie er ist, uns für eine Zeit leihen. Aber ... ich glaube wiederum, dass Noten spielen lernen nicht allzu schwer ist   es können sogar die Russen und beinahe alle Franzosen und schließlich konnten es auch die unseren lernen. Über das andere. Wissen wir, was wir nicht wissen? Aus der Fülle der misslungenen Versuche, Musik beim Klang zu suchen, sollte die Weit schon längst Bescheid wissen, was Musik nicht alles sein kann. Da Musik kein Sein ist, sondern ein Werden, entsteht in dem Wissen von dem, was sie nicht ist, die Möglichkeit der Intuition von dem, was sie werden kann.

Was soll man eigentlich wissen?

Wenn sie meine Gedanken erlebt hätten. würden Sie diese Frage nicht stellen. Das erkenntnissichere Wissen von dem, was Musik nicht ist, ist potentiell das anschauliche Wissen von dem, was sie werden kann. Hinter der primären Voraussetzung des kontinuierlich sich immer wieder erneuernden Ausschließens steckt die vorahnende, intuitive Annahme einer möglichen Gewissheit. Das Bewusstsein kann sich nicht möglicherweise mit dem Nichtsein befassen, es ist unbefangene Aufgabe des Bewusstwerdens. Das führt jedoch zu weit. Ja, und wieder: Was soll man wissen? Was kann man wissen? Da ich bei dem evolutionären Geschehen ohne umfassende spezifische Kenntnisse der Träger, ohne die Aneignung aller sinnlichen Ausdrücke die sinnlichen Ausdrücke nicht überhören kann (nichthörend, wie Steiner sagt), nicht transzendieren kann, muss, ich mich um ein gründliches, völlig in Anspruch nehmendes Wissen derjenigen bemühen. Und nicht so, wie sich die meisten Professoren aus dem Empirischen heraus mit vorgeprüften Formeln mit uns bemühten: So geht man von C-Dur nach G-Dur! In welcher Harmonielehre steht es, was mit der Spannung geschieht, wenn die Klangmasse von C-Dur nach G-Dur wandert? Ist Spannung nicht eine spürbare zentrale Kraftlinie, eine zusammenhaltende Wirbelsäule, die zum sinnlichen Ausdruck des Erlebten gehört? In welcher Harmonielehre steht es, dass Spannungsentwicklung nach allen beiden Richtungen möglich ist und dass erst eine dritte Station   da die räumliche Richtungsbestimmung dreifach ist Auskunft darüber erteilen kann?

Wer hat dem kartesianischen, ordnungsliebenden Gedalge klargemacht, dass seine lobenswerte Absicht, die Menschen über Fugenbau unterrichten zu wollen, Kenntnisse über das Wesen des Kontrapunktes voraussetzt und dass der Kontrapunkt wenig mit der statischen Disposition des Themas und Gegensubjektes innerhalb des tonalen Gerüstes zu tun hat und dass dagegen sein wirkendes Tun von der begrenzten menschlichen Fähigkeit, in sich die Verbindung zwischen horizontalem Fluss und vertikaler Konstellation vollziehend, wahrzunehmen, abhängig ist. Und die unschuldige französische Fuge, die seit jeher die Schwelle des Parnasses inkognito zu überschreiten versucht! Wo wird gelehrt, wo der Wendepunkt einer werdenden Melodie, wesentlicher Augenblick einer Linie, denke ich, die nicht möglicherweise einer einzigen mechanischen Einbahnrichtung folgt, sich befindet? Etwa in der nicht geschriebenen, geträumten Melodielehre Hindemiths? In welchem Musikfach lernt man, dass es in der musikalischen Sprache keine Wiederholungen melodischer, rhythmischer, harmonischer Art im statischen Sinne gibt, da das sogenannte zweite Mal, das scheinbar aus denselben Elementen besteht, die Spuren des Einwirkens auf den Hörer aus der ersten Berührung vorfindet und folglich den vorgefundenen, vorgearbeiteten Boden weiter Im Sinne einer Spannungszu- oder -abnahme befruchtet. Aus welcher perversen, musikwidrigen Schicksalsbestimmung kommt Ligeti so spät nach den vielen genialen Vermittlern der seriellen Offenbarung? Denn was dieser verspätete Leuchtturm her aushörte, ist von einer solchen letztmaligen Bedeutung, dass man unter anderem unzählige Quadratkilometer gutes Papier ganz anders und zweckmäßiger verwendet hätte. Je integraler die Vorformung serieller Beziehungen, um so größer die Entropie der resultierenden Struktur; denn konform der erwähnten Unbestimmtheitsrelation   je mehr Direktiven erlassen werden, desto indeterminierter die dar aus hervorgehende Struktur   fällt das Ergebnis der Verflechtung separat angelegter Beziehungsketten mit dem Maß der Prädeterminierung der Automatik zum Opfer.

Es klingt zu schön, um wahr zu sein! In weniger elegantem Deutsch: Je komplizierter die Spielregel, desto sicherer die Geräuschentstehung. Das total Determinierte wird dem total Inderterminierten gleich. Und anscheinend darf man kleinlich dazu sagen, dass es ihm so recht geschieht. Das wussten auch die Nichtphänomenologen, lieber Meister György, konnten es nur nicht vor den Studenten, diesen panikinspirierenden Zuhörern, diesen jagenden Terroristen, so souverän aussprechen. Aber mit der Direktionalität des Tempos wird es schwieriger: Was soll das? (Verzeihen Sie bitte die Störung, es gibt so etwas, und es ist sogar wichtig.) Wer erzählte uns von den Auf- und Abbautugenden, von den Gestaltungsmöglichkeiten des einheitlichen, wiederkehrenden, erkennbaren Themas als Referenz und Orientierungsfaktor in immer wieder neue entferntere, durch apparente Wiederholung anders polarisierte Situationen? Wie lange lässt man die jungen Anfänger in dem Fluss des Nichtwissens weiter schwimmen, bis sie schließlich erfahren werden, dass man nicht mit einem leeren Schönberg-Schüler Komposition studieren mag aus der unpopulären Vermutung heraus (die die Wissenden ehrfürchtig geheim halten), dass es vielleicht besser gewesen wäre, dass der große Meister selbst von seinen vollen Schülern eigentlich gelernt hätte? Nein, unsere Professoren gehen. Die Musiklehren bleiben! Sie bleiben das, was sie immer waren: stumme, degradierte Gelegenheitsgrammatiken, und wie sie immer waren: statisch, mehrstöckig stehend.

Schöpfer haben sich dieser Lehren bedient und Großartiges geschaffen!

Jawohl, aber nicht weil Schöpfer sich an statische Lehren gehalten haben. Musiklehren, so wie sie von Generation zu Generation weitergegeben werden, sind nichts anderes als tote abstrakte Reste, leblose Projektionen eines aktiv gewesenen, kreativen Prozesses, der ganz anderen Gesetzmäßigkelten gefolgt ist. Was hat Adrian Petit Coquelicot, dieser friedliche Spielverderber, von Josquin gelernt? Alles, weil nichts zu lernen war. Schöpfer haben trotz statischer Tonsatzkenntnisse (und wie oft gegen sie) lebendige, geistige Bewegung geschaffen, die ihrerseits wieder alle Chancen hat (siehe Dodekaphonie), statische, leere Lehre zu werden. Sie können unmöglich erwarten, dass der neue Generalmusikdirektor aufgrund von Gradus ad Parnassum oder, noch gründlicher, wie Scherchen, der ein Buch über Dirigieren geschrieben, aber nicht gelesen hat, zu der dynamischen Kraft der Bachschen Kontrapunktik sich emporschwang, die tobende Leere seiner fleißigen Seele   durch imponierende Schlagtechnik verdeckt   und so oder in ähnlicher Weise zu Musik kommt. Es fehlt etwas bei den vielen, sich so dekorativ ergänzenden Musiklehren, was dein einsichtigen Unbegabten etwas von ihm, von der Musik und viel vom Misslingen seiner Professoren er zählt und dadurch dieses tragische Sich- und- andere- Plagen vermeiden könnte. Gibt es so ein humanes Fach nicht oder scheitert es an der Schwierigkeit, einsichtige Unbegabte zu finden? Natürlich wird es auch da wieder von den Suchenden abhängig sein! Falls der Leser kein Bibelforscher ist, empfehle ich viel Vorsicht mit dem Suchen. Auch der fingerfertige Czerny hat die Heilige Schrift missverstanden und Sevcik gar nicht gelesen.

Was ist das Studium der musikalischen Phänomenologie, was Sie, glaube ich, unterrichten?

Ja, auch die Phänomenologie konnte einem, indem die richtige Vision des musikalischen Kontinuums entstehen konnte, nur das, was Musik nicht sei, zeigen. Und ganz einfach gesagt: Die musikalische Phänomenologie ist im Sinne der Husserlschen kartesianischen Meditationen eine Wissenschaft, sie beschäftigt sich einerseits mit der Verobjektivierung des Materials und andererseits mit den Fähigkeiten und Weisen des menschlichen Geistes, der Bewegung einer Klangmasse zu folgen und deren Werde gang aufzunehmen, zu erleben und zu formen.

Musik gab es aber, als man von der Phänomenologie nichts wusste.

Ja, und es wird sie auch immer geben. Aber sie ist er schienen, als gerade die Welt der Willkür sich so verbreitete, dass dem Menschen nicht mehr die Voraussetzungen des Musikerlebens gegeben wurden. Das Siegfried-Idyll unter Richard Wagner dauerte 30 Minuten. Siegmund von Hausegger, lange Zeit danach besser durchtrainiert, schaffte sie in dreizehn Minuten, und diese schöne, stolze deutsche Verwirklichung wurde neulich von einer vollblütigen nordischen Gazelle stark mit einer Prachtleistung von zwölf Minuten in den Hintergrund gedrängt. So etwas Her vorragendes hat ein einmaliger fliegender Holländer, der privat auch Bernard Haitink heißt, in unserer revisionsbedürftigen, skeptischen Zeit erreicht. Sprechen alle diese drei unglaublichen Interpreten von demselben Idyll, oder sollen schon heute die Kamele, alle Kamele durchs Nadelöhr können?

Was Ist die phänomenologische Definition des Tempos?

In der Phänomenologie wird gelehrt, dass Tempo keine in sich bestehende Realität ist (in keiner Weise an die Maßstäbe der Zeitbemessung der Welt reduzierbare), sondern eine lebendige, eintretende Folge von vielen zusammen wirkenden Faktoren ist. Was heißt diese herzliche Empfehlung des Komponisten J = 144? Das Phänomen 144 gibt es in der Musik nicht! Es ist der verzweifelte Versuch eines realistischen, unglücklichen Musikers, der die musikalische Nachkommenschaft kennt, der sich nicht mehr wehren kann und schlimme Entartungen vermeiden möchte - also J = 144, nicht 208 oder 42. Der wache Bartok ist, vor sorgend, noch weiter gegangen. Er hat, tägliche menschliche Bedürfnisse kennend, wenig über die Qualität der Suppe ausgesagt, dafür alles, angefangen mit der Größe der Löffel, deren Anzahl, den Griff der Hand bis auf die Öffnung und Lage des Mundes, soweit es ging, mathematisch vorbestimmt, damit sowohl das einmalige Ausschlürfen wie das ewige Trinkhalmziehen vermieden wird. Es ging trotzdem daneben: Keine Zahl und kein Papierblatt vermag diese Zeitfrage festzulegen, denn es spielt sich alles in dem völlig unmetronomischen Geiste des Menschen ab. Und wenn man bedenkt, dass das erste, was der unvoreingenommene Leser in einer Partitur (neben dar begrifflichen Spezifizierung, die meistens ein schwerer Sprachfehler ist - siehe Beethoven, Presto J   112, Allegro vivace J   132) antrifft, gerade diese statische, unmusikalische Geschwindigkeitsbestimmung ist, die ihrer realen, katalysatorischen, Synthese- erlaubenden Funktion nach eher am Ende stehen sollte. Wer von dieser toten, in der Statik uninfizierenden Rolle der beziehungslosen Schnelligkeit wegkommen und das phänomenologische Tempo,   als die einzige Umgebung, in der das Musikalische möglich wird etwas lernen möchte, muss die nähere, bewusste Bekanntschaft mit zwei musikalischen, im Hintergrund lebenden Faktoren unbedingt machen.

Man unterscheidet in der angewandten Phänomenologie : den vertikalen Druck (das Zusammenfallen mehrerer Spannungsträger im selben Augenblick) und den horizontalen Flug (Beziehungen in Raum und Zeit zwischen zusammenwirkenden Faktoren). Die verschiedenen Elemente, die viel mehr als Tonhöhe, Dauer, Intensität und Farbe sind, auf der vertikalen Linie   wirken auf unser Bewusstsein gleichzeitig. Gleichzeitig wirken auch die nach einander kommenden Elemente in der musikalischen Entwicklung im zweiten Ton einer Melodie (um das einfachste Beispiel eines horizontalen Geschehens zu nehmen) ist der erste Ton und seine komplexe Beschaffenheit in seiner lebendigen Nachwirkung und in der einmaligen Relation zum zweiten als Retention noch vorhanden. Der zweite Ton enthält potentiell als Protention auch den dritten, das heißt das, was aus ihm im weiteren, späteren Verlauf wird. Der Ton ist nicht allein; er ist ständig vom Vergangenen, vom eben Gewesenen wie auch von der aufblickenden Erwartung immanent begleitet. Er trägt in sich das Erbe der ganzen vorausgegangenen Entwicklung und ist gleichzeitig der Testamentsvollstrecker des verschwindenden Jetzt. Diese innere, doppelt polarisierte Bezogenheit  einmal allgemein zum Tonsystem und dann zum spezifisch eigentümlichen Intervallgang einer Melodie   bildet das Wesen der horizontalen, melodischen Simultaneität.

Das Tempo ist nichts anderes als eine Bedingung, ein Katalysator, der die verbindende Identifizierung in unserem Bewusstsein der vertikalen mit der linearen Gleichzeitigkeit möglich macht. Bei der Wahrnehmung der vertikalen Simultaneität ist, neben dem Spannungsgrad der Verhältnisse seiner Komponenten, die Intensität des Druckes ein wichtiges Merkmal. Bei einem kleinen vertikalen Druck (z. B. drei Instrumente, einen dreistimmigen Zusammen klang leise, leicht mit wenig Ausdruck spielend) braucht das Bewusstsein eine gewisse Zeit, um alle Ingredienzien (auch die Ober-, Kombinations- und Interferenztöne) wahr zunehmen und zu verarbeiten. Es ist der mentale, subjektive Einschwingungsvorgang, den es beim Komponieren gar nicht gibt, der folglich in keiner Partitur stehen kann, der ungemein konkret und zeitfordernd beim Hören wird. Ist der vertikale Druck größer (spielen die drei Instrumente dieselbe Funktion lauter, engagierter, ausdrucksvoller), wird das Spektrum der verstärkten Ober- und Interferenz töne größer und differenzierter (Akustik erlaubend), wird die Zeit des mentalen Einschwingungsvorgangs länger. (Im Grunde genommen wird das Spektrum nicht größer; durch Lauterwerden werden neue Elemente im menschlichen Wahrnehmungsbereich hörbar.) , Ja komplizierter und differenzierter die Objekte, desto länger die Zeit der Zurechtlegung der Eindrücke. Die Scheinkontinuität eines Filme ist eine Illusion, die entsteht, weit unser Nervensystem nicht Zeit genug hat, alle statischen Bilder einzeln wahrzunehmen und auseinander zu halten, sondern lässt als sich in einer scheinbar kontinuierlichen Bewegung integrieren. Das Ohr wie das Auge brauchen eine gewisse Zeit, um die Impressionen einzeln aufzunehmen, also ein lauter, komplexer Klang braucht mehr Zeit, um identifiziert und in seiner tatsächlichen Zusammenstellung und seinen kinetischen Tendenzen erkannt zu werden. Auch bei der horizontalen Simultaneität gibt es dieselbe Erscheinung.. Eine leise melodische Linie offenbart einige, andere, nicht alle Ihre Klangcharakteristiken. Sie bewegt sich schwerer, wenn sie durch größere Intensität und relativ bereichert von neuen, im menschlichen Wahrnehmungsbereich auftretenden Elementen begleitet wird. Also für jeden Wert und für jede Klangkonstellation (wag- oder senkrecht) gibt es nur ein optimales Zeitverhältnis, soll das Wesentliche ganz vom menschlichen Bewusstsein aufgenommen und verarbeitet werden, Die phänomenologische Definition von Tempo bleibt die Bedingung, das lebendige Verhältnis zwischen vertikaler und horizontaler Simultaneität entstehen zu lassen. Darauf ist die empirische Wahrheit, dass bei zu langsamen Tempi die Werte auseinanderfallen oder bei zu schnellen Tempi die Konfusion, das gegenseitige Sich zerquetschen entsteht, zurückzuführen. Das erwähnte Papa Haydn einmal, als er für schnelle Tempi einfache, harmonische Strukturen empfahl und umgekehrt. Und da fragte sich ein geistiger Vegetarier mitten in der Fasten zeit, privat in einer Zeitung, was Musik mit der Phänomenologie zu tun hätte! Sind also alle Wasser nass? Das Verhältnis Masse, Intensität, Zeit ist nicht interpretierbar, es ist gesetzmäßig, über den Menschen waltend, kosmisch. ob wir es aufnehmen oder nicht. In der Relativitätstheorie hat man es dem linearen Denken näher bringen wollen, in dem man die vielen Variablen mit einer Konstanten   der Isotropie des Lichtes (die keine, wie die letzten Entdeckungen zeigen, war)   in einer Formel festhalten wollte.

Also, die magische standhafte Gleichung des Tempos gibt es nicht; es kann nicht als alleinstehende Entität definiert werden. Es bleibt Funktion von vielen variablen Vektoren!. Also noch einmal einfach und praktisch zusammengefasst, wie die Bauern es sagen: Ist der Karren voll, ist das Ziehen schwieriger, geht es langsamer. Aber auch für die Schulmeister: K. Boehmer meint dasselbe, wenn er von virtuellen Bezugsnetzen (nicht gehörte Papierzumutungen) und realen, faktisch erklingenden spricht. Und seine zu nehmende Indetermination der Struktur ist nichts anderes als die Folge der immer größeren Oberbeanspruchung des begrenzten, menschlichen, wahrnehmenden Bewusstseins, dieses im menschlichen Geiste immer dichter, grauer werdende Übereinanderfallen der einzelnen Wahrnehmungen.

Wie erklärt sich das Tempo continuo" bei den Klassikern trotz Veränderung der Intensität des Ausdruckes?

Soll das Tempo aus der inneren Beschaffenheit einer spezifischen Bewegung gleich bleiben (Stilfrage) und nicht der natürlichen Tendenz des veränderten Ausdrucks nachgeben; neue Spannung wird entstehen, neue kinetische Kraft wird ins Geschehen hineingeschaffen, neue lebendige innere Gründe des Weiter- in- der- Zeit- bestehen- bleiben- Dürfens gehen ans Werk. Der Ausdruck kann wiederum auch, zu intensiv, nicht zum tatsächlichen Geschehen passen und zuviel Spannung erzeugen, so dass die noch zur Verfügung stehenden Träger, zu voll, überlaufen Werden und zusammenbrechen. Die überflüssige Belebung pulsiert wie die Pumpe des Darstellenden nach dem ab schließenden Klang sinnlos ins Leere weiter. Er kann - umgekehrt   so schwach, so unbedeutend sein, dass er die noch zur Verfügung stehenden Intervalle nicht ausfüllen, nicht zu bedecken vermag, was die taube, artikulierte Ruhe des Leerlaufs, etwa die Aussage einer allein sprechenden Zahnprothese, zur Folge hat. Die wahre musikalische Ausführung ist in dieser Hinsicht nichts anderes als das richtige optimale Verhältnis zwischen Ausdruck und Tempo, zwischen Intensität und Qualität der Bewegung. Die Romantiker haben dem Tempo und den Tempoveränderungen eine neue, erweiternde, kontrastschaffende, formgebende, gestaltende Rolle gegeben. Die Dialektik zweier verschiedener Tempi innerhalb einer kontinuierlichen Entwicklung ist eine Energiequelle geworden, aber auch ein Verhängnis, daher die Rubati   Invasion der wasserundichten Interpreten der 30er Jahre. Das oben besprochene Verhältnis Ausdruck-Tempo verkörpert sich direkt, wird hörbar. Bei den Klassikern, wo die erste Stilbedingung das Tempo continuo ist, bleibt es hintergründig. Furtwängler war der einzige, der dieses Verhältnis bewusst erlebt hat. Er vermochte deswegen jede Tempoveränderung, auch die der tonsätzlichen Struktur der musikalischen Idee ganz fremde, durch einen entsprechend adäquaten Aus druck glaubhaft, tragfähig zu machen. Auch als er nicht fand, was er suchte, war sein Suchen musikalisch. Falsch war, als man seine breiten Tempi mit dem dünnen Blut Karajans auffüllen wollte.

Kann die Partitur nicht ein Tempo definieren?

Was ist eine Partitur? Eine unzulängliche, symbolische Kurzschrift, dem Aussehen nach; eine Gebrauchsanweisung eines linear aussehenden Puzzles. Musik besteht, ob wohl so fühlbar artikuliert, nicht aus klischeehaften Stücken. Sie ist nicht eine Kette von Momenten, von Seinsformen, ein Summieren von gegenständlichen, hörbaren Impressionen. Ihr Wesen liegt im Werden, wie der eingeweihte, für uns alle heilhörende Aristoxenos längst vor dem ersten, nicht kommen wollenden Sonnenaufgang wusste. Die Töne, die Tonschritte sind nur tote Fußspuren. Steiner meinte dasselbe, sagend: "Mit jedem fertigen Ton hört die Musik auf." Es ist absolut normal, dass man auf dem Wege von der Schrift zum Erlebnis, vom Symbol zum Wesen, verloren geht. Das Befolgenkönnen des Bachischen Gedankenwerdeganges setzt im voraus etwas, was in keiner Partitur steht und nicht stehen kann. Was meinte er, als er gütigst sagte, dass diejenigen, die aus dem Tonsatz allein nicht das Tempo einer Bewegung erkennen können, es lieber lassen sollten? Und auch wem der skeptische Schöpfer hilfebringend das Tempo in einer sprachlichen Spezifizierung angibt, ist das Erkennen eines Pulses etwa leichter? Verdi muss italienisch vergessen haben, als er im selben Werk die, nur von der Sprache her betrachtet, merkwürdig erscheinenden Anweisungen verewigte: (Largo J = 60, Andante J = 58). Was ist eine Tempobezeichnung schließlich? Eine freie, nicht auf ihre Möglichkeiten bedachte Aufforderung, musikalisch zu sein. Viel leicht musikalischer zu sein, als sie es sich zu erlauben vermochten. Und der unwitzige Scherz Schumanns so schnell wie möglich? So schnell, wie die Finger es schaffen könnten, oder nicht schneller, als mein Geist die Worte in ihrem zusammenhängenden Werdegang aufnehmen kann? Und dann das "noch schneller". Schade, dass Sie, bonmothungrig, zu früh gelacht haben. Ja, allein lachen ist, wie die Witwer wissen, leichter; schwieriger wird es zu zweit. Und bei einem vollbesuchten Wiener Philharmonischen Konzert schon gar nicht möglich.

Verzeihen Sie   ich komme noch mal zurück: Wie ist das "noch schneller" von Schumann zu verstehen, denn Sie behaupten, dass bei den bestehenden gleichen Tatsachen mein Bewusstsein nicht noch schneller aufzunehmen vor mag?.

Indem man die Klangträger anders strukturiert. Das führt sehr weit, aber   versuchen wir's doch. Die quantitativen, massenhaften Verhältnisse zwischen den Stimmen bei kleinem Intensitätsausdruck: Sie sind anders, haben andere Qualitätsfolgen als bei größerem. Beim größeren Intensitätsausdruck verschwindet das Gleichgewicht, das gut in einander „Finden und Passen„, was beim kleinen Druck eventuell existierte, indem die tieferen Stimmen ungleich zuungunsten der anderen verstärkt werden. Alles (wie man so schön empirisch sagt) verlagert sich nach unten. Die Gründe dafür sind zahlreich: Das ungleich größere, reichere, hörbar gewordene Spektrum der Nebenerscheinungen (Obertöne, Interferenztöne, Kombinationstöne etc). Die Tatsache, dass die höhere Stimme selbst ohne jede Intensitätsveränderung bei jedem Zusammenklang, in dem sie, zum selben Tonsystem gehörend, die tiefere Stimme verstärkt und nicht umgekehrt; das durch Beschaffenheit der Instrumente größere Volumen der tieferen usw. Um die Ausgeglichenheit wieder herzustellen, da jede musikalische Funktion eine gesetzmäßige, schwerkraftbedingte Physiognomie hat (so etwa wie Kopf oben, Füße unten), muss man eine Korrektur im Sinne einer indirekt proportionalen Veränderung der Stärkeverhältnisse der Stimmen vornehmen. Bei der Intensitätszunahme werden die Tiefen nicht gleich wie die Höhen verstärkt, sondern Im Verhältnis weniger. Also soll mein Bewusstsein das "noch schneller" wahrnehmen können, möge dies in jedem Sinne verstanden werden   muss ich umstrukturieren. Darüber steht nichts, hat niemals etwas in einer Partitur gestanden. Was steht also in der Partitur? Alles, sagte Gustav Mahler, nur das Wesentliche nicht!

Wie sind die Konservatorien und Hochschulen musikologische Fakultäten?

Schlecht, danke schön; aber es geht denen sehr gut, seit dem durch die musikalische Umweltverschmutzung   um diese Inspirierte Charakterisierung Jonas‘ zu benutzen   jede Chance, das Wesen der Musik zu erkennen, aus dem öffentlichen Verkehr verschwunden ist. Dieser sozial unbegabte (ketzerische Münchner Professor, nebenbei gesagt) hat nicht einen Augenblick an das Schicksal der Fachmännerlegion, die, dem Imperativum unserer Zeit hörig, so schnell und zielbewusst das, was Musik werden konnte, zur Stunde Null gebracht haben, gedacht. Was soll mit denen geschehen? Es sind vielmehr, als der Münchner, bekann ermaßen ein schlechter Zähler, glaubt. Es gibt auch, wie es beim beharren der heute wirkenden Tatsachen nicht anders zu erwarten war, neben anderen Stunden auch die Stunde Null der musikalischen Interpretation. Und auch, wenn diese metropoltitanischen Wegbereiniger, Wegweiser Hirnkrankheiten   Immun sind, sind sie ziemlich alle älteren, abgestandenen, unserer Zeit fremden Musiksorten, widrig, da stauballergisch, und damit ist es auch mit dem Straßen kehren aus. Es ist doch, ein zusätzliches Problem; und wie viel komplizierter noch! Wer soll entscheiden, wer Straßenkehren soll? Das kann nicht mal der Herr Minister, auch wenn er so viel von Musik wie vom Straßenkehren verstünde: Das schafft bei dem herrschenden, nivellierenden Ausgleich Meinung- und Budgetverschiedenheiten, und das ist nichts für einen guten einheitsbedachten, undemagogischen, patriotischen, politischen Führer: Die heutige Hirnlichkeit weiß mehr als einst, was Respekt für die Person, was Menschenrechte sind und weiß, was der Bedarf des Nachbarn, besser, als der eigene, ist. Es müsste möglicherweise eine Kommission gebildet werden, aber nach dem Präzedenzfall der Pleite der parlamentarischen italienischen Antimafiakommission, die erklärte, nichts tun zu können, da alles Mafia ist, wird es bei uns mit der Selektion noch schwieriger. Die dynamischste Lösung wäre weiterhin unterbrochen, mit immer wieder neu werdendem Erstaunen zuzugucken.

Und doch gibt es bei dem ganzen Unsinn in den Lehranstalten etwas direkt Positives, auch wenn man schlecht Musik macht, kommt man zu Musik nur, indem man weiter hin Musik macht. Swarowski hat in seiner ganzen Dirigierlehrerei nur in einer einzigen positiven Weise pädagogisch gewirkt: Er zeigte gründlichst durch seine Aus- und Aufführungen, was alles Musik nicht ist, was alles sie nicht sein kann   und bei einigen Schülern ist gerade dadurch die eigene positive, nicht aufzuhaltende Version entstanden. Die anderen haben nur Karriere gemacht. Rate Mehta, wen ich meine!

Meinen Sie, dass Sie der einzige Künstler sind, der Musik zum Entstehen bringt?

Nein; ich meine, vielleicht der einzige zu sein, der   bei den heutigen Entstellungen   weiß, dass es nicht möglich ist.

Wenn Sie heute die musikalische Obrigkeit wären, was würden Sie ändern und wie?

Was kann der Papst an den heutigen Mißständen  ändern? Nicht von oben sind die Krankheiten gekommen, die den Menschen an Musik zu gelangen hindern. Auch der liebe Gott konnte nicht vermeiden, dass die Verunreinigung des Menschen nicht durch den Menschen selbst geschah. Der geistige Mensch wird wieder von unten, von dem einfachen Menschen, durch sein Tun und Lassen gedacht, er nährt und verwirklicht. Sehet doch: Die Wurzeln sind unten, sie sind von Wind und Sonne beschützt, sie tragen noch keinen Namen, haben aber sonst alles, woraus ihnen noch etwas werden kann. Nicht der Papst kann die Gottlosen entschärfen   keine spitzfindige Theologie kann die Existenz des Allmächtigen für jede menschliche Warte beweisen. Kein Kultusdiktator, chinesisch oder noch asiatischer, vermag den Menschen mit seiner inneren musikalischen Natur bekannt zu machen. Das kann nur der kleine Mann oder der Mann im kleinen selber. Der muss nur wissen, dass es schwerer zu denken ist, wenn für Ihn gedacht wird, schwerer zu singen, wenn man für ihn die Mikrophone laufen lässt, schwerer zu leben, wenn man für ihn die Lebensbedingungen vorprogrammiert hat und schließlich schwerer zu Musik zu kommen, wenn man ihm zeigt, wie leicht (Gott behüte) anderen dies eigentlich beinahe gelungen ist. Nein! Der Weg ist anders! Ich muss in mir die anderen entdecken!

Ich muss in mir, so lange dieses noch das Reich des unnennbaren Möglichen bleibt, das, was die Vergemeinschaftung der anderen Subjektivitäten ermöglicht, finden. Das, was zum universal Objektiven führt, die intersubjektive Betreffbarkeit, erfahren, Also, von mir zu den anderen, vom einzelnen zu den vielen. Als Kayserling schrieb, dass der kürzeste Weg zu sich selbst eine Reise um die Welt wäre, hat er nicht nur die entscheidende Prioritätsordnung verwechselt; der Weg zu sich selbst durch eine Weltreise ist unendlich länger, denn es gibt nichts in der Welt, was es in uns selbst nicht auch gibt, und es ist nicht möglich, etwas in der Weit zu erkennen, ohne es in sich selbst erfahren zu haben. Siehe die armen menschlichen Ergebnisse der Mondtouren! Die Reise um die Welt ist für jemanden, der sich entdeckt hat, sehr kurz. Der Wissende sucht sich nicht in den anderen: Er findet die anderen in sich. Finde die Bedingungen, dass die Musik der anderen auch in dir entstehen kann   suche nicht die Möglichkeiten, dass deine Genüsse Musik für alle werden. Erst nach dem man es bei sich gefunden hat, erfährt man, dass es all gemein gültig ist, dass es objektiv   den Sinn von Intersubjektivität betreffend   ist. Das Ist der Weg, der einzige.

Wo kommt der ausgesprochene Sinn des deutschen Kulturkreises für symphonisches Musizieren her? Von der jahrhunderte lang verbreiteten Hausmusikpflege. Nirgends sind Menschen mehr zusammen, mehr sym und näher an sich selber als zu Hause. Das wissen sogar die, die kein Zuhause haben, vielleicht mehr als alle anderen. Man lässt den Menschen nicht mehr bei sich weilen. Alles findet der Glückliche für ihn draußen vorsorglich fertiggestellt. Auch Geschichte wird für den einzelnen Gedächtnisschwachen politisch, wirtschaftlich, sozial oder auch direkt, kurzfassend, gebrauchsanweisungslos, von den anderen beleuchtet, beschnitten und verbessert. Berlin war 1928 bis 29 das Herz der damaligen musikalischen Welt. In dessen Arterien trällerte seit langem die frohe Gartenlaube, drängten sich die aufeinanderfolgenden Straßenbahn Männerchöre, die Domspatzen warben für den Himmel, und alle feierten, wie das Ärzteorchester, mit Musik. Da waren die flachen Platten und volle Kassetten und ihre einmaligen Knopfewigkeiten und weißen Schlitzoffenbarungen noch nicht so direkt am Werk. Da erlebten auch die anderen Musik, die durch die Musizierfreude des einzelnen Musizierenden entstand. Lasst die Menschen wieder ihr Inneres entdecken, um es ausmusizieren zu können. Quatsch! Sie haben recht.

Leicht gesagt, aber wie schwer in Italien, wo Musik, aus verständlichen Gründen, nicht weiter in den Schulen unterrichtet zu werden braucht. Eine so musikalische Nation, wo sogar die gesprochene Predigt am Schluss des Gottesdienstes an die Oper erinnert, braucht keinen Musikunterricht mehr. Man wäscht die Seife doch nicht! Und wenn Sie meinen, dass Bach kein Italiener wäre, das kann nur bei Ihnen liegen! Und das italienische Konzert? Ich bitte Sie! Nein, es gehört zum täglichen Leben des italienischen Musikers; so wie der eigene Rücken, den er nicht tastet, nicht kennt, aber manchmal   vor dem Schlafengehen   fühlt. Lasst doch die Konservatorien stehen, um Gottes willen (auch die Italienischen): Ein begabter Junge, eine schaffende Natur erlebt die Verstärkung, die Behauptung seiner eigenen, noch nicht endgültig unkonturierten Version auch durch die ständige Konfrontierung mit dem, was nicht Kunst ist. Was Kunst wird, kann er alleine erfahren und später selbst ausdrücken. Um wie viel mehr sind die Konservatorien erst für die Unbegabten notwendig!   Treibt das Publikum nicht von den Konzertsälen weg: Auch bei ihm, wie bei dem Jungen, entsteht aus der ständigen, dynamischen Gegenüberstellung zwischen dem Ge hörten und der persönlichen Wahrheit irgendwann das vermeintlich Richtige. Die Voraussetzung, um den Wertunterschied "zu lang", "zu schnell", "richtig" etc. empfinden zu können, ist die Existenz eines eigenen, individuellen Maßstabes. Diese eigene Version "des Dritten" kann, durch die Befangenheit des   innerhalb der Dialektik der Zu-  und Abneigungen sich bewegenden Menschen   schrecklich falsch bedingt werden. Das tut sie meistens auch; aber es ist menschlich, viel zu menschlich und kann nicht noch menschlicher werden. Und die Konzertagenten, diese idealistischen Spießbürger, wie man sie unwissend nennt, die fern von jeder geheimen Absicht, die einmalige, heil bringende Begegnung, wenn nicht direkt mit der schwer fassbaren Musik, aber sicherlich des Menschen mit sich selber, wöchentlich ermöglichen, müssen, falls nicht materiell oder sonst enttäuscht, bitte, weiter bleiben. Wie viele Doofe haben allein durch Zu- und Wiederhören vom Doofsein etwas erfahren! Es ist, obwohl nicht als solches bewertet, ein soziales Unternehmen. Gott erhalte sie uns, und uns ihnen.

Da Dirigenten heute scheinbar eine solche zentralisierende, richtunggebende Rolle zu spielen haben, schafft   um Gottes willen   Dirigierakademien oder eine Dirigier- Volksschule, denn Dirigenten sind auch Menschen. Wieso erwarten Sie, ungeduldige, grauenhafte Richter, ein um fangreiches, allumfassendes, technisches Wissen, wenn Sie denen, wie es so anklagend ausschaut, nichts gegeben haben? Sie merkten selbst (das wäre noch schöner) , dass vier und eine halbe Geigenlage nicht genug für alle Symphonien waren, aber Sie bestanden wett darauf, einfach weil Sie, verehrte Zuhörer, das andere nicht merkten. Sie können nicht diese letzten noblen Zweifüßler als Parasiten der öffentlichen und sonstigen Ignoranz abstempeln las sen. Sie müssen um Menschen willen neben dem vielen Hören auch etwas wissen. Auch, wenn auf das Hören nicht Immer Verlass ist, Sie haben, uneingeschränkt, so wie die anderen Bürger dieses Hochlandes, welches so mutwillig Kultur genannt wird, ein Recht auf Ausbildung, "Auskennen", Ausformung und alles andere, was mit diesem aus leerenden "Aus" zu tun hat. Vereinfacht für diese geplagten Erwachsenen die Notenschrift! Warum so viele heimliche und heimtückische Zeichen, für so etwas Schlichtes   was sowieso nicht stimmt und was auf jeder einfachen Gitarre geht? Spielt Segovia nicht symphonisch Gitarre? Lasst den verlegenen Rektor nicht allein, Tiessen, durch wohlgemeintes Hersagen und -hören ersetzen: Die Reihen müssen nicht unbedingt voll sein. Es ist ein alter, falscher, patriotischer Vorsatz. Ich kann mir schwer ein Studentengedränge vor einem leeren Lehrstuhl vorstellen. Und wenn Sie keinen Rhythmiker unter die Finger kriegen, da es auch in Schweden Orchideen - arme Jahr gibt, müssen Sie unbedingt aus den prosaischen Pressekenntnissen, Informationen neidloser Abstinenzler und glänzenden Data eines willigen Lexikons, einen zusammenbasteln? Die Selektionsprinzipien der Lehrkräfte können wahrlich nicht alle falsch sein, aber sie sind schwerer auseinander zuhalten als die des Pilzsuchens, denn noch keiner ist bis heute an giftigem Musikgenuss gestorben. Das so oft gehörte "das macht mich krank" ist nur Salonangeberei. Denn diesen Kranken ist es zu verdanken, dass das Konzertleben überall so gesund gedeiht. Und es wird immer schwerer. Dazu die teuflischen Täuschungen, dass die wahren Analphabeten nicht diejenigen sind, die an den Fin gern abzählen und eine Privatsyntax ersehnen: Die echten, die eigentlichen, sind diejenigen, die schreiben und lesen können. Und wie viel Mühe und Geld der Versuch gekostet hat, die sieben mageren Jahre wegzuschaffen, sie nicht in das moderne Testament zu übernehmen! Da mit fetten Kühen nur noch in der Bibel zu rechnen ist, müsste man, angesichts der allgemeinen chronischen Knappheit, es mit dem roten oder den anderen Kreuzen versuchen. Substanz zu suchen wird mit der Zeit eine Luxuslaune, aber Geld zu finden, bleibt eine wetterundwendische Notwendigkeit. Partituren, diese stummen, geheimnisvollen, allwissenden, geduldigen, allezeit bereiten namenlosen Lehrer müssen schleunigst neu, einfacher und vor allem farbiger gedruckt werden   soll der Unbemittelte aus dem grauen Alltag rauskönnen und müssen viel weniger, oder, je nach dem, gar nichts kosten, denn   bei den heutigen Preisen   kann kein christlicher Student selber herausfinden, ob die Ideen auch so teuer sind.

Haben sie das alles zum Teil schon hinter sich, lasst die Kinder endlich wieder an der in sich und wieder in der Welt entdeckten Musizierfreude zehren. Fingersätze hassen. Übungsstunden lassen gehört eben wie Kochtöpfe hantieren und Gegennotenrebellieren zur musikalischen Begabung. Wenn Musik in dem kleinen, wissenden Herzen zu räsonieren anfängt, dann gibt es mindere Chancen, dass die Finger, Bogen, Ventile, Lehren und Magister sie kaputt  kriegen könnten. Das von ihm so in ihm Erlebte wird trotz fachmännischem Kiebitzen sich irgendwie weiter auf die Instrumente übertragen lassen, erst die Gesundheit und dann das zukunftsreiche Schwätzen darüber, wie man vermutlich nicht krank wird.

Sie möchten vieles so ganz anders haben, werden aber, wie Ihre Konzerte zeigen, mit den deutschen Arbeitsbedingungen fertig!

Ich arbeite nicht mit vorgefundenen Arbeitsbedingungen: Ich schaffe für mich und meine Mitarbeiter selber welche. Sind fünf Proben für Sacre du Printemps ebenso genug wie für die Fünfte Beethovens, weil die wöchentlichen Arbeitsstunden begrenzt und die Produktionserfordernisse groß sind? Das kann kein Abteilungsleiter sagen, mag die Station noch imponierend kürzer als BBC heißen. Seine Rolle ist, der Versuchung, 70 Minuten in eine Sendestunde rein zu bugsieren, männlich zu widerstehen und andererseits, den Modeneuigkeiten und Podiumssensationen mit weiblicher Offenheit zur Verfügung zu stehen. Also schwierig. Sonst sind sie musikalisch zur lebenslänglichen Unschuld verurteilt. Nein, wir müssen selber antworten und umdisponieren. Neben Arbeitsbedingungen schaffen wir uns auch gute Programme und manchmal sogar brauch bare Konzertsäle. Alles kann man aber nicht vermeiden! Dass man einem Instrumentalisten, der bei jeder Aufgabe mit allen seinen bewussten und unbewussten Mitteln dabei sein möchte, womöglich lebenslang einen normalen Idioten vorsetzt, ist die tragischste Zumutung, die unsere Brutalität verkörpern mag und an dem wehrlosen Menschen wagt. Wo nimmt sich derjenige, der seinen Nächsten ausbeutet, die Freiheit her, ihn weiter leben zu lassen? Bei dem undemokratischen Lebensstil der Frösche sucht sich das kleine Ding den Teich, wo es am besten leben und gedeihen kann, selbst aus. Ein Orchestermitglied wird nicht mal gefragt, ob er diese braune Luft eine Woche lang aushalten kann. Sonst ist Frankfurt eine demokratische Gegend. Die Stadtväter haben es leicht, da es schon lange keine Frösche mehr gibt. Nicht so der Rundfunkrat. Was hat ein deutscher Musiker davon, wenn ich ihm sage, dass ich ihm beistehe und mit ihm zusammen leide? So weit kann er gar nicht reichen; er muss seine Kinder, durch Hineinblasen, ernähren. Das tat er auch und soll sonst sein Maul halten. Die anderen, die Tauben, sollen lauter sprechen, damit sie hören, ob das, was sie sagen, stimmt! Baden ist in den meisten deutschen Gewässern verboten: Gesundheitsschutz. Warum sind Musikveranstaltungen im Wilhelmshavener Theater und Heilbronner Konzertsaal gestattet? Weil keiner danach ohnmächtig geworden ist oder weil es nicht zu den Arbeitsbedingungen gehört? Wiesenhütter schreibt, wegen Handschuhen, zu langsam, und mit der Musiktherapie versucht man sich zunächst an Gesunden. Sonst sind wir wirklich glücklich, alle, ich auch, deutsche Orchestermusiker zu sein.

Und die anderen deutschen Orchestermusiker?

Wenn Musik die universale Sprache, die das Zueinander finden ermöglicht, ist, das Pflegen und Weitergeben gemeinsamer geistiger Erlebnisse erlaubt, ist die tragische Lage des einsamen, auf sich selbst gestellten Orchestermusikers der nicht glauben mag, dass das ihm aufoktroyierte Privatdelirium Musik sei, nicht zu beschreiben. Man findet viele Fremde, die Musik in diesem reichen Deutsch land suchen: Sucht man auch nach denjenigen, die Musik nicht gefunden haben? Gibt es irgendeinen musikalischen Unterschied zwischen einem unbegabten Deutschen und einem unbegabten Ausländer? Wahrscheinlich ja   sonst hätten sich die schlüssigen Gremien nicht so leicht, nicht so oft und eindeutig, bekennen können. Nicht nur für Provinzler ist Internationalsein faszinierend   auch die anderen lieben, dass Kunst keine Schranken und keine Hautfarbe hat, nicht Kartoffeln pellen kann, grenzenlos unchauvinistisch und torlos offen ist und fließend Hotel   Englisch spricht. Die Frage ist, ob Deutschland ohne eigene Dirigenten und die Fremde ohne Deutschland auskommen können! Ist es so sicher, dass Unmöglich von Möglich kommt? Kommt das Angebot vor der Nachfrage oder die Nach frage nach dem Angebot? Auf alle Fälle kommt es über den Kopf der Befehlsempfänger. Und doch gibt es erstaunlicherweise, trotz lastenden Unvermögens, hoffnungslosem Stöhnen und andauerndem Leiden, eine erstaunliche Bereitschaft, eine jugendliche Begeisterungsfähigkeit bei dem deutschen Orchestermusiker, die bezeugen, dass die lang und grob betretene Muttererde, wenn auch keine Phosphate, so doch sonst noch etwas anzubieten hat. Diese Feuer, die noch unter der dicken Asche blinzeln, sind für mich die schönste Aufforderung und der belebendste Ansporn, es nochmals zu versuchen. Mag der An fang jedes Mal noch so tief in dem verwaisten Menschen liegen.

Sehen Sie, alles was ich Ihnen über Musik und Unmusik erzählt habe, kann und wird leicht für intellektuell, abstrakt, anschauungslos, für sinnlose Haarspalterei eines Kahlen, der sich an der Wortklauberei versucht, gehalten werden. Nicht so für die Orchestermusiker, meine Fahrgesellen, mit denen ich manche Wunderlandreisen glücklich bestanden habe. Und es liegt nicht an mir, sondern an denen. Somit ist diese Besprechung nicht für Sie gemeint   Sie hätten es auch nicht nötig. Es ist absurderweise gerade für diejenigen gedacht, die sicherlich bei dem intellektuellen, abstrakten, rationalistischen Aspekt aller Darstellungen unvermeidlich und ununterbrochen verloren gehen werden, damit ich ruhig das wohltuende Gefühl, etwas für meine Mitmenschen getan zu haben, auch heute nach Hause mitnehmen dürfte ... Elf kommt meistens nach acht, auch für diejenigen, die sich von der vertrauten Fingerzählung emanzipiert haben. Vielleicht aber nicht für die, die bei sieben ins Uferlose geraten oder die, die nicht über genügend sichtbare, rotbenagelte Deutler verfügen, um etwas über elf erfahren zu können. Rechnen wir aus purer Menschenliebe nicht weiter. Ich bin meiner sonstigen Natur für die Entwicklung dankbar, die mir erlaubt hat, fern von jeder neonbeleuchteten Mondänität den Weg, der zum Musikerlebnis führt, gemeinsam mit manchem Musiker zu begehen. Wie die meisten illusionsarmen Menschen bin auch ich von einer zweckmäßigen Kurzsichtigkeit befallen, die mir nicht immer die nähere Bekanntschaft mit dem Beifall und Lob spendenden Publikum direkt erlaubt. Meine eigentliche Zuhörerschaft, mein mir nahestehendes Publikum sind die erlebnisfrohen und fähigen Mitgestalter, meine Orchestermusiker. Von denen und mit ihnen zusammen habe ich erfahren, was Musik nicht sei, wie auch, wie sie manchmal wird.

Jemand ruft; wir müssen, glaube ich, aufhören. Nebenan arbeitet ein kurzer Stuttgarter Musiktheoretiker.

"Verzeihung ... hat Herr Schoor mich gerufen?"
"Nein, ich sprach zu mir selber!"
"Und was erzählten Sie sich wieder?"
"Ich weiß nicht; ich habe nicht zugehört!"

Gesprächspartner: Heinz Ludwig